Es geht immer mehr, als man denkt

Ein Aufruf in Der Linken zu bleiben

Viele von uns star­ren seit dem Bun­desparteitag der Linken und den Aus­trit­ten der fol­gen­den Woche angestrengt auf das Glas und fra­gen sich: Ist es jet­zt hal­b­voll? Oder ist es hal­bleer? Die Wahrheit ist: Das hängt von dem ab, was jet­zt passiert.

Wir waren geschockt von den Ereignis­sen auf dem Berlin­er Lan­desparteitag – und demge­genüber froh, dass es auf dem Bun­desparteitag eine Debat­te und eine Beschlussfas­sung zum israelisch-palästi­nen­sis­chen Kon­flikt und zur Abgren­zung von Anti­semitismus gab, worauf sich auf­bauen lässt. Es hat uns gezeigt, dass wir viele der Debat­ten, die wir schon ein­mal geführt haben, erneut führen müssen. Posi­tio­nen, die wir für gek­lärt gehal­ten haben, müssen wir erneut begrün­den und für Mehrheit­en wer­ben. Immer deut­lich­er wird auch: Wer bes­timmte tra­di­tionelle linke Set­zun­gen z.B. in der Friedens- und Außen­poli­tik um jeden Preis fes­thal­ten will, ver­wick­elt sich in Wider­sprüche, kündigt Sol­i­dar­itäten auf und kann keine linke Per­spek­tive bieten. Daher brauchen wir eine offene pro­gram­ma­tis­che Debat­te.

Der Beschluss des Bun­desparteitages zu Nahost ist ein Kom­pro­miss. Er hat Schwächen, etwa die unaus­ge­wo­gene und his­torisch verkürzte Darstel­lung der Vorgeschichte des 7.Oktobers. Er schafft aber Klarheit: Per­so­n­en und Organ­i­sa­tio­nen, die Hamas oder His­bol­lah beklatschen oder unter­stützen, kön­nen nicht Mit­glied und keine Bündnispartner*innen für Die Linke sein. Wir erwarten vom gewählten Parteivor­stand, dies auch durchzuset­zen. Wir sehen den aktuellen Beschluss als Grund­lage, die in diesem Sinne prak­tis­che Kon­se­quen­zen haben muss.

Es gibt einiges am let­zten Parteitag und sein­er Grund­stim­mung, was wir prob­lema­tisch find­en. Wir haben unter­schiedliche Hal­tun­gen zum Bedin­gungslosen Grun­deinkom­men, aber einen Mit­glieder­entscheid nicht umzuset­zen, wider­strebt unserem demokratis­chen Selb­stver­ständ­nis – und die Debat­te dazu war kein inhaltlich­es Glan­zlicht. Wir glauben nicht, dass eine Erneuerung der Partei nur über Selb­st­mar­ket­ing und Gespräch­sof­fen­sive möglich ist – wir wollen eine Partei, die sich zu den aktuellen poli­tis­chen Her­aus­forderun­gen so nachvol­lziehbar posi­tion­iert, dass sie in der gesellschaftlichen Debat­te wahrgenom­men wird. „Die Linke macht Poli­tik mit denen, die fortschrit­tliche Antworten auf die Her­aus­forderun­gen der Zeit suchen und durch­set­zen wollen, und mit denen, die bei der gesellschaftlichen Verteilung von Macht, Eigen­tum, Einkom­men und Ein­fluss struk­turell benachteiligt wer­den“ (Leitbeschluss Halle): Das lesen wir auch als Beken­nt­nis zu Fem­i­nis­mus, Anti­ras­sis­mus und inter­na­tionaler Sol­i­dar­ität. Auch für uns ist „Klasse“ ein wichtiger Bezugspunkt unser­er Poli­tik. Aber einen gle­icher­maßen unschar­fen wie infla­tionären Klassen­be­griff, der tra­di­tionelle Ori­en­tierun­gen pauschal als „Klassen­poli­tik“ adeln will, sehen wir kri­tisch. Das strate­gis­che Dreieck (Protest und Bewe­gung, grund­sät­zliche Kri­tik und Alter­na­tiv­en, Über­nahme konkreter poli­tis­ch­er Gestal­tungs­macht) hal­ten wir für unverzicht­bar, wenn wir Gesellschaft wirk­lich verän­dern wollen – das ist unbe­quem und manch­mal unpop­ulär, aber es ist das, was eine linke Partei aus­macht.

Viele von uns haben sich in den let­zten Jahren im Net­zw­erk Pro­gres­sive Linke organ­isiert. Die Aus­tritte von Genoss*innen, die uns nah­este­hen, wie Hen­ri­ette Quade, Elke Bre­it­en­bach, Klaus Led­er­er, und viel­er ander­er schmerzen uns sehr. Wir teilen manch­es ihrer Kri­tik, kom­men aber im Ergeb­nis zu einem anderen Schluss: Wir wollen für das Über­leben der Linken kämpfen und dafür stre­it­en, dass sie eine ern­stzunehmende linke Kraft wird, die auf die Her­aus­forderun­gen des 21.Jahrhunderts bessere Antworten hat als Zitate aus dem 19.Jahrhundert. Eine dog­ma­tis­che oder rück­wärts­ge­wandte Linke hat keine Über­leben­schance. Dann sinken die Chan­cen, soziale und pro­gres­sive Ziele in dieser Gesellschaft durchzuset­zen und dem Recht­sruck eine fortschrit­tliche Per­spek­tive ent­ge­gen­zuset­zen. DIE LINKE ist eine his­torische Errun­gen­schaft und wir sind uns sich­er: Wenn sie ein­mal weg ist, kommt eine zweite Chance nicht so schnell wieder.

Wir rufen dazu auf, nicht zu gehen. Aber wir wollen uns bess­er organ­isieren und lauter wer­den: inner­halb der Linken und darüber hin­aus. Wir sind überzeugt, dass viele einen solchen Anlauf­punkt suchen. Das sind wir auch den vie­len Neueinge­trete­nen schuldig, die auf den Bruch mit Sarah Wagenknecht und dem BSW gewartet haben, die eine linke Partei suchen, und die ein Recht darauf haben, dass wir die Diskus­sion um den weit­eren Weg mit ihnen führen.

Der Bun­desparteitag bot auch Anlass zur Hoff­nung. Die Auftritte von Ger­hard Tra­bert und Sarah Lee Hein­rich etwa ermuti­gen uns, dass Die Linke wieder attrak­tiv wer­den kann für gesellschaftliche Linke, die heimat­los gewor­den sind: Durch das Ver­sagen der Ampel, den Recht­sruck von SPD und Grü­nen, aber auch durch das poli­tis­che Ver­sagen der Linken in den let­zten Jahren. Wir sind offen für Men­schen, die bei SPD und Grü­nen keine Per­spek­tive mehr für sich sehen. Wir wer­ben um Men­schen, die die Erfahrung machen, dass das Engage­ment in Bewe­gun­gen, NGOs, Ini­tia­tiv­en allein nicht aus­re­icht, um grundle­gende Spiel­regeln der Gesellschaft zu verän­dern. Die Linke für sie alle wieder attrak­tiv zu machen — dabei kön­nen wir eine wichtige Rolle spie­len, dafür wollen wir gemein­sam mit euch kämpfen! Wir wer­den uns aktiv in die Debat­te zum Bun­destagswahl­pro­gramm, in die Wahlkämpfe und in die pro­gram­ma­tis­che Erneuerung der Linken ein­brin­gen und möcht­en das zusam­men mit euch tun.

Wie geht es weit­er?

Am 6.11. machen wir eine Videokon­ferenz. Wir wollen darüber reden, wie wir uns inner­halb der Partei Die Linke im Sinne dieses Aufrufs bess­er organ­isieren kön­nen und was dabei die „Mis­sion“ ist. Das muss nicht in der Form klas­sis­ch­er Arbeits­ge­mein­schaften oder Strö­mungen sein, aber ohne eine gewisse Struk­tur wird es nicht gehen.

Am 23.11. trifft sich das Net­zw­erk Pro­gres­sive Linke bun­desweit in Berlin. Daran wer­den viele von uns teil­nehmen und die Ergeb­nisse des 6.11. dort ein­brin­gen.

Gebt euch einen Ruck und bewegt euch. Mehr wer­den hil­ft immer. Alleine grü­beln ist keine Lösung. Und es geht immer mehr, als man denkt.

Unterzeichner*innen:

Sabine Berninger

Dr. Cor­nelia Ernst

Luca Grim­minger

Fred­erike-Sophie Gronde-Brun­ner

Anne Helm

Ker­stin Köditz

Katha­ri­na König-Preuss

Caren Lay

Sofia Leonidakis

Cor­nelia Möhring

Juliane Nagel

Luise Neuhaus-Warten­berg

Can­su Özdemir

Markus Pohle

Mar­ti­na Ren­ner

Sabine Rit­ter

Paul Schäfer

Mar­tin Schird­e­wan

Chris­tiane Schnei­der

Kati­na Schu­bert

Christoph Spehr