25. März 2021 — Luise Neuhaus-Wartenberg: Entwicklung des Freistaates seit 1990 ist kein Grund zum Jammern – aber auch nicht für Regierungslob

Zur Debat­te über die Große Anfrage der Links­frak­tion „Der Freis­taat Sach­sen: 30 Jahre Land der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land“ (Druck­sache 7/3827) heute im Land­tag erk­lärt Luise Neuhaus-Warten­berg, zuständig für das The­ma Osten:
„Der Blick auf die Entwick­lung des Freis­taates in den let­zten 30 Jahren liefert keinen Grund zum Jam­mern, aber auch nicht dafür, die durch­weg CDU-geführten Regierun­gen hochleben zu lassen. Sach­sen war ziem­lich oft Spitzen­re­it­er, allerd­ings nicht nur im Guten.
Im Niedriglohn­land Sach­sen leben heute rund 500.000 Men­schen weniger als 1995. Viele waren und sind gezwun­gen, der Arbeit hin­ter­her zu ziehen oder zu pen­deln. Das Durch­schnittsalter ist mas­siv von 39,4 Jahren auf 46,9 Jahre angestiegen. Ger­ade in jün­geren Alterss­chicht­en gibt es immer weniger sozialver­sicherungspflichtig Beschäftigte. Vie­len Leuten fehlen eine langfristige Per­spek­tive, vernün­ftige Arbeit­szeit­en, öffentliche und kul­turelle Infra­struk­tur, ein gutes Einkom­men. Sie arbeit­en oft länger als West­deutsche und bekom­men dafür auch noch tausende Euro im Jahr weniger. Aufhol­prozess ist ein furcht­bar­er Begriff – Stag­na­tion trifft es heute eher. Viele Hoff­nun­gen auf gle­iche Löhne für gle­iche Arbeit, gle­iche Aus­bil­dungs- und Kar­ri­erechan­cen, auf Gle­ich­berech­ti­gung der Geschlechter sowie auf gle­iche Renten, die im Alter ein würde­volles Leben sich­ern, haben sich auch nach 30 Jahren noch nicht erfüllt. Der Eliten­wech­sel, der Men­schen mit ost­deutsch­er Sozial­i­sa­tion und Biografie automa­tisch von Kar­ri­erewe­gen und Spitzen­po­si­tio­nen auss­chloss, hat sich bis heute weit­er ver­fes­tigt.
Eine gute Infra­struk­tur ist ein Regierungsjob und nicht der Job von pri­vat­en Unternehmen. Dabei geht es um einen ordentlichen Inter­ne­tan­schluss, um Mobil­ität und Arzt­prax­en, um Kranken­häuser, aber auch um Kul­turhäuser, Dor­fkneipen und Dor­flä­den. Defizite und Ver­luste in diesen Bere­ichen sind ist das Ergeb­nis ver­fehlter Förder­poli­tik. Sie ent­standen auch, weil die Staat­sregierun­gen die Kom­munen – auch finanziell – im Regen ste­hen lassen. Der Anteil der pri­vat­en Kranken­häuser liegt bei 30 Prozent. Ähn­lich ist die Lage bei Pflege­di­en­sten und ‑heimen. Die Fol­gen kann man spätestens jet­zt in der Pan­demie sehen: Über­las­tung des Per­son­als, Kos­ten­druck und vieles mehr.
Wir fordern soziale Garantien, damit nie­mand durchs Raster fällt. Ziehen wir die richti­gen Schlüsse aus den let­zten 30 Jahren (Entschließungsantrag: Druck­sache 7/5898). Schaf­fen wir Renten­gerechtigkeit nicht nur für die in der DDR geschiede­nen Frauen und zahlre­iche Beruf­s­grup­pen, deren Ansprüche nicht ein­gelöst sind. Zur Ver­mei­dung von Armut im Erwerb­sleben und im Alter gehört es auch, dafür zu sor­gen, dass gle­ich­w­er­tige Arbeit in Ost und West endlich gle­ich bezahlt wird.“
Hin­ter­grund: Aus­gewählte Zahlen
 Seit dem Schul­jahr 1992/1993 wur­den 768 der damals 2.299 all­ge­mein­bilden­den Schulen geschlossen.
 Die Zahl der Per­son­al­stellen für Lehrkräfte sank seit dem Schul­jahr 1997/1998 (45.748) deut­lich bis zum Schul­jahr 2015/2016 (34.701). Erst seit­dem gibt es eine Erhol­ung.
 Seit 1992 ver­lassen rund zehn Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss.
 Die Zahl der Aus­pendler stieg seit 1999 von gut 103.000 auf 140.500.
 Von 1991 bis 2018 sank die Zahl der Kranken­häuser von 103 auf 78, die der Kranken­haus­bet­ten von 34.692 auf 25.547.
 Seit 1990 ist der Anteil an Beschäftigten, die nur in Teilzeit arbeit­en, stetig gewach­sen. Bei den Frauen liegt er inzwis­chen bei mehr als 40 Prozent.
 In den let­zten 20 Jahren sind immer mehr Pflege­di­en­ste und Pflege­heime in pri­vate Hände ger­at­en, auch die Zahl der Pflege­heime in öffentlich­er Hand ist stark gesunken.
 Der Rück­stand säch­sis­ch­er Brut­to-Jahre­seinkom­men gegenüber dem West-Schnitt lag im Jahre 1991 bei ‑10.767 Euro, 2019 noch bei ‑5.884 Euro.
 Die Tar­if­bindung sinkt in Sach­sen seit 1990 und zudem viel schneller als im West­en. Der Anteil der Beschäftigten, die durch einen Tar­ifver­trag geschützt sind, lag 1996 bei 70 Prozent (West­deutsch­land: 81 Prozent), 2019 nur noch bei 43 Prozent (West­deutsch­land: 53 Prozent).
 In Sach­sen sind seit 2014 hun­derte Dor­flä­den und Gas­tronomieein­rich­tun­gen ver­loren gegan­gen. Die Zahl der Dor­flä­den, die auch Lebens­mit­tel anbi­eten, sank um 128 von 590 auf 462. Die Zahl der Dor­flä­den, die nur Lebens­mit­tel anbi­eten, sank um 219 von 1.246 auf 1.027.