»Leider ist das Gespenst des Kommunismus das einzige Gespenst, das gerade nicht umgeht in Europa« (Madame Baheux)

Zum Leben und Wirken von Karl Marx sind in den let­zten Wochen aus Anlass seines 200. Geburt­stages zahlre­iche medi­ale Beiträge veröf­fentlicht wor­den und nicht zulet­zt taucht in allen Pub­lika­tio­nen die Frage nach der Rel­e­vanz der Marx‘schen Ideen für die Gegen­wart auf.

Die Antwort auf die Frage der Rel­e­vanz der Erken­nt­nisse von Marx für heute kön­nen wir uns eigentlich nur selb­st geben. Und diese Frage ist für Linke, beson­ders aber für die DIE LINKE., nicht nur schwierig, son­dern auch schmerzhaft. Sie ist deswe­gen schmerzhaft, weil die Beschäf­ti­gung mit den Ideen von Marx immer mit dem Marx­is­mus sowie mit dem auf ihn Bezug genomme­nen Gesellschaftsmod­ellen mit allen Defor­ma­tio­nen und Per­vertierun­gen ver­bun­den ist.

Selb­stver­ständlich ist eine kri­tis­che Auseinan­der­set­zung in diesem Kon­text nach wie vor notwendig. Was aber jen­seits dieser notwendi­gen Debat­ten zumin­d­est auch festzuhal­ten ist, ist, dass bei der Beschäf­ti­gung mit Marx unweiger­lich die Ökonomie in das Blick­feld rückt. Kann für DIE LINKE. eine grund­sät­zliche Befas­sung mit den ökonomis­chen Ver­hält­nis­sen nüt­zlich, nein, sog­ar notwendig sein? Über­raschung! Die Antwort lautet: Ja. Wenn wir die Analyse von Marx als richtig unter­stellen, dann nehmen wir an, dass die sozialen Ver­w­er­fun­gen ein­er kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft­sor­d­nung, damals wie heute, let­ztlich nur Wirkun­gen ihrer “Pro­duk­tionsver­hält­nisse” sind. Wenn wir die Analyse von Marx als richtig unter­stellen, dann muss die poli­tis­che Kraft, näm­lich wir, die wir diese Ver­w­er­fun­gen zurecht fortwährend scharf kri­tisieren, die Ursache dieser Wirkun­gen in den Blick nehmen.

Manche wer­den ein­wen­den, dass diese Kri­tik doch stat­tfind­et. Klar! Nur, und diese Frage muss doch wohl ges­tat­tet sein, wo entwick­elt eine solche Kri­tik tat­säch­lich gesellschaft­spoli­tis­che Rel­e­vanz? Wo ver­schafft sie sich Gehör, weil sie jen­seits alt­bekan­nter Plat­titü­den grund­sät­zlich kri­tisch auf die tat­säch­lichen Ver­hält­nisse heutiger Waren- und Dien­stleis­tung­spro­duk­tion Bezug nimmt? The­o­retis­che ökonomis­che sowie prak­tis­che Ken­nt­nisse mod­ern­er Waren- und Dien­stleis­tung­spro­duk­tion wären hier Voraus­set­zung und Ansatzpunkt für eine rel­e­vante Kri­tik. Allerd­ings, und dieser Punkt scheint im Rück­blick auf die Sozial­is­mus-Ver­suche des ver­gan­genen Jahrhun­derts beson­ders wichtig zu sein, Weg und Ziel sollte immer die freie Ent­fal­tung aller Men­schen sein.

Es lohnt sich an dieser Stelle, eine wesentliche Facette her­vorzuheben, die jedoch im linken Diskurs bis jet­zt unter­be­lichtet scheint. Der Satz im Kom­mu­nis­tis­chen Man­i­fest, wo Marx und Engels von der “Assozi­a­tion, worin die freie Entwick­lung eines jeden die Bedin­gung für die freie Entwick­lung aller ist”, sprechen, ist fast genau­so so oft und selb­stver­ständlich zitiert, wie nicht vol­lum­fänglich ver­standen wor­den. Men­schen, die im realen Sozial­is­mus aufgewach­sen sind, bericht­en gern, dass genau anders herum gedacht und getan wurde.

Das Indi­vidu­um wurde als dem Kollek­tiv gegenüber nachrangig aufge­fasst. Es, das Indi­vidu­um, sollte sich in das Kollek­tiv ein­fü­gen, um die Sache, “unsere” Sache, den Sozial­is­mus ins Werk zu set­zen. Das Prob­lem dabei war: Wer entsch­ied eigentlich, wo der Platz der Einzel­nen war? Das über­nahm die Avant­garde, die Vorhut der Arbeit­erk­lasse. Wer der Weisheit der Partei gegenüber mis­strauisch war, geri­et gerne mal in den Ver­dacht des bürg­er­lichen Indi­vid­u­al­is­mus.
Es scheint, diese Geschichte und das von nicht weni­gen Linken heute immer noch behauptete Wis­sen darüber, welche Inter­essen die Leute eigentlich haben und was gut für sie sei, sind Gründe, warum sich die Linke so anstellt, wenn es um indi­vidu­elle Frei­heit geht. Natür­lich wird ein einzelnes Zitat, zumal es ja in einen Kon­text einge­bet­tet ist, für eine generelle Blick­wende nicht aus­re­ichen. Es lohnt sich aber vielle­icht, Marx von dorther zu lesen und zu schauen, wie gewinnbrin­gend das ist.

Jed­er Schritt wirk­lich­er Bewe­gung (seht auf das über­stra­pazierte Zitat aus den “Rand­glossen” (3)) ist dann Fortschritt, wenn er auf die Frei­heit der Einzel­nen 3 gerichtet ist. Es braucht eine Erweiterung demokratis­ch­er Teil­habe und des Schutzes vor staatlichen Zumu­tun­gen, die Ein­führung und Einübung von Regeln der gesellschaftlichen Auseinan­der­set­zun­gen. Dabei ist es notwendig, die Wege zum Ziel zu beschreiben. Insofern ist auch der Weg das Ziel. Soviel soll­ten wir gel­ernt haben.

Um auf die Ein­gangs­frage zurück­zukom­men: die Beschäf­ti­gung mit Ökonomie mag auch möglich sein, ohne einen Satz von Marx gele­sen zu haben, für eine grund­sät­zliche Kri­tik der heuti­gen Ökonomie wäre die Beschäf­ti­gung mit Marx und Engels sich­er alle­mal hil­fre­ich. “Lohn, Preis und Prof­it”, ein Vor­trag von Marx vor dem Gen­er­al­rat der Inter­na­tionalen Arbeit­eras­sozi­a­tion im Juni 1865 (2) wäre ein Anfang. Wir soll­ten also die ökonomis­chen Ver­hält­nisse in den Fokus unser­er Aufmerk­samkeit brin­gen…

Wir sprechen immer über ökonomis­che Wirkun­gen und besten­falls, wie man diese Wirkun­gen abmildern kann. Und wenn man aber bei Marx ist, dann muss man über die Ursachen sprechen. Und die liegen in den Ver­hält­nis­sen, in den Pro­duk­tionsver­hält­nis­sen. Warum? Das Entschei­dende sind die Pro­duk­tionsver­hält­nisse! Ungerecht in diesen Ver­hält­nis­sen ist die struk­turelle Unter­legen­heit der abhängig Beschäftigten, genau­so wie die der Selb­ständi­gen und Klei­n­un­ternehmen. Was auch immer vergessen wird, Marx ist nicht vom Him­mel gefall­en. Er rei­ht sich in die Ideengeschichte der Men­schheit ein, hat aber am klarsten analysiert, dass eine wirk­liche (bürg­er­liche) Frei­heit und Gle­ich­heit, die sich nicht auch auf die Pro­duk­tionsver­hält­nisse bezieht, für diejeni­gen, die abhängig beschäftigt in diesen Ver­hält­nis­sen tätig sind, let­ztlich Fik­tion bleibt. Hier­auf basiert der Kern des kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tems und hier­aus entste­ht gle­ichzeit­ig der Kap­i­tal­is­mus imma­nente Wider­spruch in Form eines Lohn-Gewin­nver­hält­niss­es, das am Ende immer zu Las­ten der Lohnarbeiter*innen geht.

Es sähe gewiss etwas merk­würdig aus, wenn sich das Forum Demokratis­ch­er Sozial­is­mus mit Gesellschaft­s­the­o­rien und Vorstel­lun­gen von einem demokratis­chen Sozial­is­mus nicht befassen würde. Aber Leute, ger­ade junge, neue Mit­glieder, gehen völ­lig anders an Poli­tik und deren All­t­ags­geschäft her­an. Sie nehmen Prob­leme in ihrer Lebenswelt wahr und machen sich Gedanken, wie die prak­tisch zu lösen wären. Zum Beispiel leben sie in ein­er Europäis­chen Union, die sich zu ein­er Frei­han­del­szone, die die wirtschaftlich schwächeren Staat­en weit­er schwächt und die Starken noch stärk­er macht, entwick­elt hat, die Bürger*innenrechte ein­schränkt und gewil­lt ist, aufzurüsten. Aber ein Rück­zug auf Nation­al­staat­en ist für sie keine Lösung. Und eine Reform der EU darf eben nicht beim bloßen Ruf nach einem “Neustart” ste­hen­bleiben. Um zu konkreten Vorstel­lun­gen zu kom­men, wo Refor­men notwendig sind und auf welchem Wege sie in die Welt kom­men kön­nen, ist es notwendig die EU und ihr Funk­tion­ieren zu ken­nen. Dafür sind dann eben offene Gren­zen hil­fre­ich. Logisch!
Ein näch­stes Beispiel: Beim The­ma Bedin­gungslos­es Grun­deinkom­men geht es zunächst nicht um dessen Ein­führung. Es ist aber sehr wohl geeignet, um eine gesellschaftliche Debat­te zu befördern, bei der es schlichtweg um einen anderen Begriff von Arbeit und das, was gesellschaftlich notwendi­ge Arbeit ist, geht. Und ja, wer das The­ma Bedin­gungslos­es Grun­deinkom­men bear­beit­et, kommt nicht umhin, auch über Frei­heit zu sprechen, weil es das Recht darauf stärkt, “Nein” zu sagen und sich ganz bewusst bes­timmter Zumu­tun­gen des Arbeits­mark­tes zu erwehren.

Zusam­men­fassend bleibt Eines: ob es freilich gelin­gen kann, sich erfol­gre­ich in die Gesellschaft, in die Poli­tik, in den Kampf um Frei­heit­srechte einzu­mis­chen, ohne über­haupt zu lesen, scheint zweifel­haft. Und da bleibt Marx eine wirk­lich gute und weg­weisende Adresse. Wer also ern­sthaft wis­sen möchte, ob er uns heute noch was zu sagen hat, lese ein­fach los. Eine Schrift von ihm.

Anmerkun­gen:
(1) Madame Baheux ist eine coole Com­bo von vier Frauen aus Wien.
(2) “Lohn, Preis und Prof­it” in: Marx/Engels Werke Bd. 16, S 101 ‑152.
(3) “Kri­tik des Gothaer Pro­gramms” in: Marx/Engels Werke Bd. 19, S. 13.