Fragend schreiten wir voran
Antrag des FDS an die 1. Tagung des 6. Parteitages der Partei DIE LINKE
DIE LINKE muss — will sie gestaltend auf die Entwicklung Europas und der Gesellschaft hierzulande stärker Einfluss nehmen — sich selbst hinterfragen, gesellschaftliche Debatten in sich aufnehmen und sich so einer ständigen Erneuerung unterziehen. Sie muss über ihren Gestus im öffentlichen Auftreten ebenso nachdenken, wie über die konkrete Ansprache. Die Herausforderung ist größer als die Fragen, über die in der Partei DIE LINKE vordergründig heftig diskutiert wird: Ob Partei in Bewegung oder Sammlungsbewegung, ob populistische Antworten oder ernsthafte Problembewältigung, ob konkrete Konzepte oder Plakate, ob Republik Europa oder mehr Kompetenzen für die nationalen Parlamente, ob Digitalisierung Gefahr oder Chance bedeutet, ob Latte Macchiato oder Bierstammtisch.
Die Vertretung organisierter Neonazis in einer Fraktion im Deutschen Bundestag ist eine Zäsur in Deutschland seit 1990. Diese Zäsur bringt eine zunehmende Verrohung der Sprache, in der politischen Auseinanderansetzung und in der Gesellschaft mit sich, den Verfall von kulturvoller Debatte, eine zunehmende chauvinistische und rassistisch aufgeladene Gewalt auf den Straßen gegen Schwächere, Geflüchtete, soziale wie gesellschaftliche Randgruppen und das Zurückdrängen positiver gesellschaftlicher Diskussionsprozesse und Entwicklungen bspw. beim Thema Gender Mainstreaming. Die Ellenbogengesellschaft mutiert zu einer (zu)schlagenden und ausgrenzenden Gesellschaft. Der Tritt geht dabei stets nach unten. Diese Zäsur bedroht die Demokratie und Vielfalt unserer Lebensweisen. Darüber hinaus gibt sie erz-konservativen Auffassungen Auftrieb, wie sich gerade an der aktuellen Auseinandersetzung um die Abschaffung des § 219a StGB zeigt. Nicht erst seit den jüngsten Fluchtbewegungen nehmen die Kräfte zu, die ein Auseinanderbrechen sozialer und gesellschaftlicher Strukturen forcieren und zur Auflösung gesellschaftlicher Milieus wie wir sie kannten beitragen. In ost- wie westeuropäischen Nationalstaaten wird ultrarechte Politik zunehmend salonfähig. In Deutschland regieren Christ- und Sozialdemokraten in Richtung Weiterso.
So notwendig und wichtig die Auseinandersetzung mit anderen, gerade rechtspopu-listischen Parteien und Bewegungen auch ist, so klar müssen wir uns selbst Fragen stellen. Warum ist es uns bislang nicht gelungen, ganz unabhängig davon eine ernsthafte Debatte über Defizite in unserer eigenen Partei zu führen? Warum werden wir weder als die demokratische noch als die soziale oder friedliche Alternative wahrgenommen? Warum wird uns zu wenig zugetraut, die Zukunft zu gestalten? Warum ist unsere inhaltliche und personelle Verankerung in ländlichen Gebieten gesunken? Warum finden unsere Konzepte für Umverteilung von Einkommen und Vermögen, für die Verhinderung und Bekämpfung von Kinderarmut, für bessere Lebensbedingun-gen für Alleinerziehende und für Mehrelternschaft so wenig öffentlichen und gesellschaftlichen Widerhall?
Wir meinen explizit nicht unsere Flüchtlingspolitik, denn für uns als internationalistische demokratische Sozialisten*innen ist klar: Jetzt kommt es darauf an, Haltung zu bewahren. Wir wollen ein Bollwerk für Menschlichkeit sein. Wir machen das Ausspie-len der Armen gegen noch Ärmere nicht mit.
Seit dem Erfurter Programmparteitag 2011 sind viele Menschen neu in unsere Partei eingetreten. Seit dem Erfurter Programmparteitag hat sich aber auch die Welt grundlegend geändert. Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Mehr und mehr Menschen machen sich aus dem globalen Süden auf den Weg in den globalen Norden, die Briten verlassen die Europäische Union. Krieg ist alltäglich geworden.
Weltweit vergrößert sich die soziale Spaltung. Die Lebens- und Arbeitswelten waren und sind — bspw. durch Globalisierung, Digitalisierung und einen Wandel des kapitalistischen Systems hin zu einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus — in hohem Maße Veränderungen und einem Anpassungsdruck ausgesetzt. Diese Prozesse haben wiederum massive Auswirkungen auf soziale Beziehungen und Milieus. Auch hierzulande. Prekäre Arbeit, Leiharbeit, immer erdrückendere Sanktionen in den Sozialsystemen, Bildungsabbau und ein Ausverkauf der öffentlichen Daseinsvorsorge prägen den Alltag von Millionen Menschen. Diese kämpfen jeden Tag hart um Erreichtes und leider auch Unerreichbares. Wenn sich die Welt um uns herum einem solch tiefgreifenden Wandlungsprozess unterzieht, können und dürfen wir nicht so bleiben, wie wir es in der Vergangenheit waren. Nur wenn wir neue programmatische und organisatorische Antworten finden, uns mit dem gesellschaftlichen Wandel auseinandersetzen, werden wir auf Dauer überlebens‑, motivations- und mehrheitsfähig sein. Die Herausforderungen sind gewaltig. Deshalb muss sich DIE LINKE in eine innere Transformation begeben. Diese kann im 21. Jahrhundert nur ein Ziel haben: linke Politik demokratisch, sozial, diskursorientiert und pluralistisch zu definieren.
Unsere Mobilisierungsfähigkeit hat in den vergangenen Jahren abgenommen, nicht nur aber auch weil eine Kampagne nach der anderen die realen Möglichkeiten der Mitglieder übersteigt. In den sogenannten Flächenkreisen sind wir immer weniger präsent und verankert, was wiederum Auswirkungen auf unsere Stärke, Ansprechpartnerin für Sorgen und Nöte, sprich: Kümmererpartei zu sein, hat. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass in den urbanen Zentren neue Generationen zu uns finden und so auch das Gesicht und die Debatten unserer Partei verändern. Dies reicht bei weitem noch nicht aus, ist aber ein ermutigendes Zeichen.
Wir wollen die Fenster aufstoßen und offen miteinander in den Diskurs treten. Dabei geht es nicht zwingend um Positionsverschiebungen, sondern um einen neuen Zugang zu dieser Gesellschaft und den Menschen, die in ihr leben, arbeiten, lieben und kämpfen. Es geht um, Erweiterungen unserer Programmatik, mit denen wir auf Veränderungen der Welt antworten.
Was ist unsere Antwort auf die Unregulierbarkeit internationaler Kommunikations- und Informationsplattformen, auf die Beeinflussung ganzer Diskurse durch Computerprogramme und die kommerzielle und entmündigende Verwertung unser intimsten Daten?
Was ist unsere Antwort auf die kommende Roboterisierung ganzer Produktions- und anderer Arbeitsfelder (bspw. auch der Einsatz in der Pflege)? Und welchen Arbeitsbegriff setzen wir den veränderten Bedingungen entgegen? Hier beginnen bereits Debatten, bspw. zu einer Robotersteuer, an welcher sich auch die LINKE beteiligen und eigene Vorschläge erarbeiten muss.
Antworten auf diese und andere Fragen finden wir aber nur dann, wenn wir miteinander Möglichkeiten für Debatten und Diskurse finden, diese einfordern und befördern, sie vorurteilsfrei führen und gewinnbringend verknüpfen. Wir müssen darüber reden, wie wir wieder mehr Menschen an uns binden können, wie es uns gelingt neue Mitglieder zu gewinnen und alte zu halten. Wir müssen darüber reden, wie wir gezielt auf sich verändernde gesellschaftliche Gruppen und Ansprüche zugehen wollen und wie wir unsere Ansprache hierbei verändern müssen. Wir müssen darüber reden, welche Funktion Parteien zukünftig in einer Gesellschaft haben und wie wir unsere Funktion als Partei definieren wollen. Wir müssen darüber reden, welche Aufgaben eine Partei und welche Aufgaben eine Bewegung hat. Darüber, wo es Gemeinsamkeiten gibt und darüber wo es Differenzen gibt. Wo kann Bewegung eine sinnvolle Ergänzung sein. Wir müssen darüber reden, ob und wie wir unsere Sprache, Kultur und Debattenkultur verändern müssen. Wir müssen reden — über vieles und ohne substanzlose Gegensätzlichkeiten: Miteinander! Solidarisch! Gespannt! Aufgeschlossen!
Der Parteitag möge beschließen:
1. Der Parteivorstand wird beauftragt, eine Programmkommission einzusetzen. Diese soll zu mindestens 50% aus Mitgliedern bestehen, die nach dem Erfurter Parteiprogramm in die Partei DIE LINKE eingetreten sind. Die Programmkommission soll in Veranstaltungen, Foren und Einzelgesprächen prüfen, an welchen Stellen es Veränderungsbedarf am Parteiprogramm gibt und ob eine Überarbeitung oder Neuerarbeitung eines Programms die angemessene Reaktion wäre. Die Programmkommission soll dem 7. Parteitag einen Bericht vorlegen und einen Vorschlag unterbreiten, wie die basisdemokratische Programmarbeit in der Partei DIE LINKE nach dem 7. Parteitag fortgesetzt werden soll.
2. Es wird ein Campus Parteireform als ständige Einrichtung geschaffen, der zusätzlich ein Forum für themenbezogenen Debattenaustausch bildet. In einem ersten Schritt wird — vor allem online basiert — ein Ort geschaffen, in dem Debattenbeiträge zu den beschriebenen Fragen veröffentlicht und debattiert werden. Die Beiträge werden halbjährlich in einem Sammelband zusammengestellt, kommentiert, zusammengefasst und online wie offline zur Verfügung gestellt. Der Parteivorstand und die Bundesgeschäftsstelle werden damit beauftragt, eine solche Dokumentation zu pflegen und gezielt Debattenbeiträge aus der Partei einzufordern und zu veröffentlichen.
3. Einmal im Jahr wird ausgehend von dem Sammelband eine gemeinsame Tagung von Parteivorstand, politisch Aktiven und Gewählten auf kommunaler, regionaler, Bundes- und Europaebene, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Expert*innen und weiteren Mitgliedern der Partei durchgeführt, in der konkrete Vorschläge diskutiert und das weitere Vorgehen zur Umsetzung beraten wird.
Im Hinblick auf die Debatten im Rahmen des Campus Parteireform sollen unter anderem folgenden Fragen debattiert werden:
“Wie kann die Zukunft von Partei(systemen) aussehen?”
Diese Achse soll sich mit Fragen der Zukunft von Parteien, ihren sich verändernden Einflusssphären und Aufgaben in Gesellschaften sowie ihrer Finanzierung auseinandersetzen, sowie vor allem auf die innerparteiliche Demokratie und Debattenkultur bezogene Modelle analysieren und debattieren. Hier muss auch diskutiert werden, wie sich Partei und Bewegung in der Gegenwart ergänzen können und was die unterschiedlichen Aufgaben von Partei und Bewegung in der Zukunft sind.
“Wie können Mitglieder gewonnen werden und neue Organisationsmodelle aussehen? Wie gestalten wir eine lebendige Partei?”
Diese Achse soll Strategien zur Mitgliedergewinnung und Mitgliederpflege, sowie eine Neujustierung unserer Organisationsmodelle anhand realer Lebenswelten diskutieren und Schlussfolgerungen erarbeiten. Dabei soll ein Schwerpunkt darauf gelegt werden, welche Organisationsmodelle eine Einbeziehung Alleinerziehender ermöglichen und die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Politik erleichtern und wie im ländlichen Raum lebende Genoss*innen mit schlechter Anbindung an regionale Parteistrukturen besser einbezogen werden können.
“Welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse finden statt und welche Gruppen und Milieus sind für linke Politik ansprechbar?”
Eine sich in ihren Grundwerten verändernde gesellschaftliche Debatte bietet neue inhaltliche und personelle Anknüpfungspunkte für linke Politik. Diese Achse soll den Versuch unternehmen, relevante gesellschaftliche Entwicklungsprozesse neu oder in verändertem Gewand die politischen Debatten bestimmen könnten. Daraus schluss-folgernd wollen wir bestimmen, an welchen Stellen DIE LINKE dazu Antworten ent-wickeln muss und welche Gruppen und Milieus für uns ansprechbar sind.
“Was macht die Linke in Europa?”
Die Entwicklung und Themensetzung unserer europäischen Partnerparteien, aber auch sozialer Bewegungen sind ein unermesslicher Erfahrungsschatz und gleichzeitig Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen in Europa. Daraus wollen wir hier Schlussfolgerungen für das zukünftige Agieren der Partei DIE LINKE ableiten und uns in einem regen Austausch über die besten Strategien und Konzepte begeben.
“Warum nicht ein Labor der Zukunft?”
Hier sollen in enger Zusammenarbeit mit der Programmkommission Themen aufgeworfen und debattiert werden, die noch keinen ausreichenden Eingang in unsere Programmatik gefunden haben. Denkbar wären hier Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung, Verteidigung der Demokratie, weltweite soziale Gerechtigkeit und Vielfalt der Lebensweisen. Diese Achse soll eine Unterstützung der Arbeit der Programmkommission sein um herauszufinden, an welchen Stellen ein Update unserer Lösungsvorschläge notwendig ist.
“Welche Bedeutung hat das strategische Dreieck heute für uns?”
Das strategische Dreieck, bestehend aus Protest, Widerstand und der Vorstellung eines demokratischen Sozialismus, der über die derzeitigen Verhältnisse hinausweist als Gegen-bild zur Ausbeutung im Kapitalismus ist zentrales Thema dieser Achse. Wir wollen beleuchten, wie wir im Sinne dieses strategischen Dreiecks Politik im Hier und Jetzt gestalten.